Winterthurer Pioniergeist: Wie die Industrievergangenheit die heutige Arealentwicklung beeinflusst
Bahnhof Winterthur: Unter 20 Minuten in Zürich. In weniger als 40 Minuten in St. Gallen. Der Flughafen Zürich in unmittelbarer Nähe. Die deutsche Grenze nicht weit entfernt. Winterthur inmitten von top Bildungsinstitutionen, optimale Erschliessung und Verfügbarkeit von Fachkräften – alles stichhaltige Voraussetzungen für eine florierende Arealentwicklung von Stadt und Region Winterthur. Wie die Industriestadt ihren Pioniergeist aus der Vergangenheit in die Zukunft trägt und die aktuelle Arealentwicklung von vielfältigen Faktoren abhängt.
Im 19. Jahrhundert tüftelte Charles Brown erst in der Firma Sulzer an der Verbesserung der Dampfmaschinen und später als Mitbegründer der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM) an der Erfindung der Elektrolokomotive. In den Hallen des Sulzer-Areals befand sich das damals wegweisende Zentrum für Lokomotivbau, das für die ganze Welt produzierte und entwickelte. Ende des 20. Jahrhunderts zog sich die Schwerindustrie rasant aus Winterthur zurück. Was blieb war ein riesiges, äus-serst zentral gelegenes Areal. Erst drei Jahrzehnte später erwachte die einst «verbotene Stadt». Das Portier-Häuschen erinnert an die Eingangskontrolle – heute ein hippes Kleinlokal. Die Winterthurer Bevölkerung musste sich erst daran gewöhnen, dass sie in diesem Areal nun willkommen ist: Der Skills Park, das Cameo Kulturkino sowie das Les Wagons beleben heute den Lagerplatz. Auch die zahlreichen Studierenden haben das Areal wieder zum Leben erweckt. Als Bindeglied zwischen Bildung und Wirtschaft fungiert auf dem Areal der Technopark Winterthur, der Startups fördert. Heute ein geglückter Mix.
Lokstadt – die wohl grösste Neugestaltung
Gleich angrenzend zum Lagerplatz kam es nach fast dreissig Jahren zum Spatenstich für den neuen Stadtteil Lokstadt. Ein Grossteil des früheren Industrieareals, der nun zukünftig Wohnen, Arbeiten und Freizeit verbinden soll. Rund 120 000 Quadratmeter Land stellen in den nächsten sieben Jahren die wohl grösste Neugestaltung in der Winterthurer Arealentwicklung dar. In Zusammenarbeit mit diversen Stakeholdern wurde ein konsensgerechter Gestaltungsplan erstellt. Die grösste Herausforderung bei solchen Grossprojekten ist, dass diese von der Bevölkerung angenommen und entsprechend genutzt werden. «Dabei spielen eine gute Durchmischung und smarte Mobilitätskonzepte eine grosse Rolle», so Lucius Graf, Leiter Business & Meetings bei House of Winterthur. Die Lokstadt werde grösstenteils verkehrsfrei bleiben – durch Tiefgaragen werde der Verkehr zu den entsprechenden Gebäuden gelenkt. Die maximal 200 Ein- und Ausfahrten pro Stunde könnten daher knapp werden. An Alternativen für Mobilität in der Zukunft wie dem dreirädrigen Bicar tüfteln Entwickler der ZHAW auf dem benachbarten Lagerplatz. Oder in der Velostadt bietet sich der ultraleichte Anhänger Polyroly an.
The Valley – Entwicklungsareal und Forschungszentrum
Heute verkehren täglich über 120 000 Personen und 670 Züge zwischen Zürich und Winterthur. Der Bahnhof Kempt-
thal liegt dabei an einer der meist befahrenen Zugstrecken. Direkt an diesem Bahnhof liegt das industriehistorische Maggi-Areal. Heute Entwicklungsareal und Forschungszentrum: «The Valley». Die unter Denkmalschutz stehenden Gebäude werden aufwändig saniert und zusätzliche Neubauten realisiert. The Valley umfasst 100 000 Quadratmeter Mietfläche mit einem lebendigen Nutzermix. «Mit über sechzig Mietern ist die Hälfte der Mietfläche besetzt, und es arbeiten aktuell rund 700 Personen hier. Zudem laufen fortwährend Investitionen in Gebäudepark und Infrastruktur: So wird im Frühjahr 2020 die Silobar über den Dächern des Areals eröffnen, die Ansiedlung von Lebensmittelshops ist in Verhandlung und nächsten Sommer wird das eben beschlossene ‹Valley House of Food›, ein Hub für innovative Lebensmittelentwicklung und Produktion, fertiggestellt sein», so Mikula Gehrig, Immobilienentwickler der Mettler2Invest AG. Mit Blick in die Zukunft wird The Valley im Vollausbau viel Leben nach Kemptthal bringen, wobei bereits Mobilitätslösungen angedacht sind wie beispielsweise Züge im Viertelstundentakt. «Ein optimaler Anschluss an das ZVV-Netz ist zentraler Faktor für die erfolgreiche Arealentwicklung», so Bernard Hosang, Gemeindepräsident Lindau.
Zukunftsbrille aufgesetzt – werden Visionen wahr?
Seit Dezember 2019 ist die Startup-Szene im «Home of Innovation» in Töss auf dem Rieter Fabrikareal eingezogen. Wo neue Ideen gesponnen werden, liegen zudem zukunftsweisende Erschliessungsprojekte auf dem Tisch: Der geplante Brüttemer Tunnel soll das Nadelöhr im Eisenbahnnetz zwischen Zürich und der Ostschweiz entlasten. In Neuhegi-Grüze, wo ein zweites urbanes Zentrum als bipolare Stadtvision von Winterthur angedacht war, gibt es noch Entwicklungspotenzial, wobei der grösste Park der Stadt, ein neu gebautes Primar-Schulhaus sowie verfügbare Gewerbeflächen, bereits vorhanden sind. Die geplanten Pocket Parks, verschiedene Formen von altersgemischtem Wohnen, und nicht zuletzt die neue Autobahnerschliessung Neu-Hegi sollen hier die künftige Entwicklung unterstützen.
Nach dem Rückzug der Schwerindustrie brauchte Winterthur dreissig Jahre, um die ehemaligen Industrieareale mit neuem Leben zu füllen. An vielen Stellen bereits mit grossem Erfolg. An anderen Stellen ergeben sich neue Herausforderungen. Winterthur hat jedoch in den vergangenen zweihundert Jahren schon manche Herausforderung gemeistert und wird auch hier Lösungen finden. Mit Pioniergeist. ■