«Nachhaltige Entwicklung ist heute keine Lifestylefrage mehr»
Alec von Graffenried ist Stadtpräsident von Bern. Für ihn hat die Bundeshauptstadt eine Leaderfunktion mit dem Anspruch, im Bereich der Nachhaltigkeit die innovativste und fortschrittlichste Schweizer Stadt zu sein.
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Herr von Graffenried, herzliche Gratulation: Im Städteranking 2019 von Wüest & Partner liegt die Stadt Bern in Sachen höchste Lebensqualität neu an dritter Stelle. Worauf führen Sie das zurück?
Bern hat einen Lauf. Die Stadt hat eine starke Identität – die Bernerinnen und Berner lieben ihre Stadt und haben konkrete Vorstellungen, was gut ist für Bern. Das sind beste Voraussetzungen, um eine hohe Lebensqualität zu entwickeln. Politik und Verwaltung waren erfolgreich darin, die Interessen der Einwohnerinnen und Einwohner aufzunehmen. Das hat spürbar zur Erhöhung der Lebensqualität beigetragen.
Seit 2017 sind Sie Stadtpräsident von Bern. Was bedeutet Ihnen dieses Amt?
Es ist schlicht das schönste, vielfältigste Amt, und das in der schönsten Stadt der Welt. Was will man mehr.
Filippo Leutenegger, 2018 Anwärter auf das Zürcher Stadtpräsidium, sagte in einem Interview: «Als Stadtpräsident hat man keine Macht, höchstens Einfluss». Stimmen Sie dem zu?
Wo er recht hat, hat er recht! In der Schweiz ist die Macht vielfach geteilt. So bin ich kein CEO der Stadt, sondern muss für alle Entscheide Mehrheiten gewinnen. Im Gemeinderat, im Stadtparlament oder auch in einer Volksabstimmung. Das ist zwar mitunter anstrengend, ist aber im Erfolgsfall befriedigend und führt zu einer besseren Akzeptanz. Dieses System ist die wichtigste Voraussetzung für die gut integrierte Gesellschaft in der Schweiz, das ist für mich unser wichtigster Erfolgsfaktor überhaupt.
Auf Ihrer Homepage ist zu lesen, dass Bern eine ökologische Vorbildstadt sein soll. Was heisst das konkret und wie möchten Sie das umsetzen?
Als Hauptstadt haben wir eine Leaderfunktion. Wir haben den Anspruch an uns, im Bereich der Nachhaltigkeit die innovativste und fortschrittlichste Schweizer Stadt zu sein. Im Verkehr – Stichwort Verkehrsberuhigung in den Wohnquartieren – gelingt uns dies bereits sehr gut. Dasselbe wollen wir auch in anderen Bereichen wie Energie, Raumplanung, Städtebau umsetzen.
Von 2007 bis 2011 waren Sie bei Losinger Marazzi AG verantwortlich für nachhaltige Entwicklung und von 2012 bis 2016 Direktor «Immobilienentwicklung Mitte». Wie definieren Sie nachhaltige Entwicklung?
Gemäss den gängigen Definitionen: Die Befriedigung unserer heutigen Bedürfnisse soll nicht die Möglichkeiten künftiger Generationen beeinträchtigen. Wichtiger als die präzise Begriffsdefinition ist mir aber die Erkenntnis, dass nachhaltige Entwicklung heute keine Lifestylefrage mehr ist, sondern eine Überlebensfrage.
Das heisst?
Vor 10’000 Jahren, in der letzten Eiszeit, lag über Berlin ein 200 Meter dicker Eispanzer. Was meinen Sie, wieviel tiefer lag damals die Durchschnittstemperatur in Berlin? Die Antwort ist: Fünf Grad. Ich glaube, das zeigt gut, wie wichtig und dringend ein sorgsamer Umgang mit der Klimaerwärmung ist. Nachhaltige Entwicklung heisst Verantwortung übernehmen; Verantwortung für eine sozial, ökologisch und wirtschaftlich tragbare Zukunft.
Welche Kriterien müssen erfüllt werden, damit man diesem Begriff bei Arealentwicklungen gerecht wird?
Wir bauen Neubauten für 50, 80 oder über 100 Jahre. Wenn wir sehen, wie aufwändig Sanierungen sind, ist es logisch, dass wir künftige Entwicklungen antizipieren müssen. Nachhaltige Arealentwicklung beinhaltet auch Ansprüche der sozialen Nachhaltigkeit. Dies fängt im Partizipationsprozess der Arealentwicklung an und setzt sich mit einem schlauen Mix der zukünftigen Nutzerinnen und Nutzer fort, damit unsere neuen Stadtquartiere bereits beim Bezug mit Leben erfüllt werden.
Sie plädieren für die Planung von 2’000-Watt-Quartieren und Plusenergie-Bauten. Können Sie das etwas genauer erläutern?
Es geht um unsere Zukunft! Wir wollen nicht, dass sich künftige Städterankings an Kriterien wie einer funktionierenden Wasserversorgung oder der Anzahl der Hitzetoten bemessen. Dafür müssen wir den CO2-Ausstoss drastisch senken. Nun ist der Gebäudesektor in der Schweiz mindestens für ein gutes Viertel der hier ausgestossenen Klimagase verantwortlich. Daher ist es zentral, bei der Sanierung bestehender oder der Erstellung neuer Gebäude die grossen Potenziale zu nutzen, um den Energieverbrauch und den CO2-Ausstoss zu senken. Das können wir nur mit der Förderung von 2’000-Watt-Quartieren und Plusenergie-Bauten erreichen.
Was wurde in diesen Bereichen bereits verwirklicht?
Bei städtischen Gebäuden setzt die Stadt Bern Massstäbe für umwelt- und energiegerechtes Bauen. Im Bereich der Wohnüberbauungen haben wir die vorbildhaften Siedlungen «Stöckacker Süd» und «Burgunder» realisiert. Weitere Planungen wie das «Warmbächli-Areal» oder das «Viererfeld» werden bald folgen.
Das Projekt «Aarerain» in Worblaufen der Gemeinde Ittigen soll das erste Plusenergie-Quartier der Schweiz werden und einen Beitrag zur Umsetzung der Energiestrategie 2050 des Bundes leisten?
Um den Standard Plusenergie-Quartier zu erreichen, ist es notwendig, pro Jahr mehr Energie zu produzieren als das Quartier verbraucht. Es lohnt sich auf jeden Fall, dieses Ziel anzustreben. Auch wir in Bern sind gewillt, bei geeigneten Arealen mit den Grundeigentümerschaften Regelungen anzustreben, welche die Realisierung von Plusenergie-Quartieren ermöglichen.
«Partizipation wird in Bern grossgeschrieben.»
Welche weiteren Grossprojekte stehen an, respektive welche Projekte liegen Ihnen besonders am Herzen?
Die Bebauung des «Viererfelds» mit Wohnungen für über 3’000 neue Einwohnerinnen und Einwohner. Ebenso am Herzen liegen mir Infrastrukturprojekte wie der Ausbau des Bahnhofs Bern oder die Tunnellösung Bypass A6; diese haben einen enormen Einfluss auf das zukunftsfähige Funktionieren der Stadt. Sehr viel erhoffe ich mir schliesslich von unserem Projekt «Kooperation Bern», das der Stärkung der gemeindeübergreifenden Zusammenarbeit dient, bis hin zu Fusionen.
Als Stadtpräsident möchten Sie den Städtebau vorantreiben, denn Sie würden über ein «Planungsgen», verfügen, berichtete die Neue Zürcher Zeitung. Können Sie dieses «Gen» anwenden?
Ob es ein Gen ist, bezweifle ich. In der Sache ist es aber in der Tat so, dass wir in Bern derzeit viele und ausgesprochen spannende Planungsprojekte haben.
Sie sagen: Wenn eine Stadt wächst, treffen unterschiedliche Bedürfnisse aufeinander. Wie kann man diesen gerecht werden?
Indem man in erster Linie gut zuhört. Dann erfährt man, was die Menschen brauchen und möchten. Partizipation wird in Bern grossgeschrieben. In unterschiedlichen Arten der Mitwirkung holen wir die Bedürfnisse ab, also zum Beispiel die Anliegen der Wohnbevölkerung, der Gewerbetreibenden, der Kultur-, Sport- oder Eventszene. Beispielsweise können sich die Menschen momentan in einem breit angelegten Mitwirkungsprozess zur Zukunft des Freibads Marzili einbringen.
«Die Leute möchten den öffentlichen Raum nutzen.»
In welche Richtung wird sich Bern und die umliegenden Quartiere entwickeln?
Dynamisch. Ich spüre einen grossen Gestaltungswillen aus der Baubranche, der Politik, aber auch aus der Bevölkerung. Die Leute möchten den öffentlichen Raum nutzen und mitgestalten, was zu lebendigen Quartieren beiträgt. Gleichzeitig möchte ich dafür sorgen, dass Investitionen in Neubauten und Sanierungen sorgfältig erfolgen. Qualität soll von zentraler Bedeutung sein. Im Städtebau, Wohnraum, Sozial- und Aussenraum, in der Ökologie, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Entwicklung der Stadt soll – kurz gesagt – nachhaltig erfolgen.
Wo setzen Sie als Stadtoberhaupt Ihre Prioritäten?
Ich möchte dafür sorgen, dass sich die Menschen in Bern zuhause fühlen. Damit schliesse ich unterschiedlichste Lebenswelten ein: Ob dies das Zuhause des Wohnens, Arbeitens, der Bildung, von Gästen oder von Freizeit und Sport ist. Und ich will der Bevölkerung Mitbestimmung und Selbstverantwortung ermöglichen und zu einer tragfähigen Gesellschaft beitragen, in der sich die Menschen auch für andere und für die Gemeinschaft engagieren. ■