Roger Strub: «Der Erhalt schützenswerter Bauten hat mit Identität zu tun»

Dezember 2019

Roger Strub ist Leiter der Denkmalpflege des Kantons Zürich. Sie hat den gesellschaftlichen Auftrag, wertvolle Bauten zu erhalten. Heute ist der Begriff schutzwürdiger Objekte viel umfassender und breiter als früher. Zu den wichtigsten Kriterien gehört einerseits der historische Zeugniswert, anderseits die bauliche Substanz der Gebäude.


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Herr Strub, weshalb ist es wichtig, gewisse Objekte zu erhalten?
Viele Menschen haben das Bedürfnis nach Erinnerung. Das gilt oft auch für Bauten. Die Denkmalpflege hat den gesellschaftlichen Auftrag, wertvolle Bauten vergangener Epochen zu erhalten. Dadurch bewahren wir Erinnerung, Wissen über Techniken und Materialien sowie Kenntnisse über gestalterische Vorstellungen. In Baudenkmälern ist dies materiell festgemacht und kann weiteren Generationen als Inspirationsquelle dienen. Zudem hat der Erhalt von schützenswerten Bauten viel mit Identität zu tun.

Während den verschiedenen Zeitepochen hat sich die Vorstellung, was ein schützenswertes Baudenkmal ist, verändert.
Ja, und das grundlegend. Früher hat man hauptsächlich Kirchen, Burgen und Pfarrhäuser als erhaltenswert betrachtet. Doch das ist Vergangenheit. Heute ist der Begriff, was schutzwürdige Objekte sein können, viel umfassender und breiter. So sind zum Beispiel Arbeiterwohnhäuser oder Fabrikbauten neben ihrem architektonischen Wert sozialhistorische Zeugnisse der Industrialisierung.

«Das Objekt muss Zeugnis einer anderen Epoche sein.»

Warum ist es wichtig, Industriekultur am Leben zu erhalten?
In den 60er-Jahren zählte die Schweiz zu den höchst industrialisierten Ländern der Welt. Die vielen Industriebauten und Wohnsiedlungen erzählen genauso davon wie die Villen der Fabrikbesitzer, und sie gehören zur Identität bestimmter Orte. Hätte man beispielsweise beim Sulzer-Areal in Winterthur alles abgerissen und Wohnblöcke erstellt, wäre viel des spezifischen Charakters dieser Stadt verloren gegangen. Auf dem Sulzer-Areal spüren und erleben die Menschen die Geschichte – also die Identität vor Ort.

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt werden, damit ein Objekt auf die Inventarliste der schützenswerten Bauten aufgenommen wird?
Das Objekt muss in einem besonderen Masse Zeugnis einer anderen Epoche sein. Zu den Kriterien gehören einerseits die architektonische Qualität, die Seltenheit und die bauliche Substanz der Gebäude, andererseits aber eben auch die historische Aussagekraft. Das Objekt muss eine politische, wirtschaftliche, soziale oder baukünstlerische Epoche besonders stark repräsentieren. Dass Gebäude viel über gesellschaftliche Bedingungen und Ziele verraten, kann man beispielsweise bei Schulhäusern sehr gut sehen: Die mächtigen Schulhäuser aus dem späten 19. Jahrhundert verkörpern eine andere Aussage als die pavillonartigen Schulbauten aus den 1950er-Jahren.

Inwiefern?
Die Schulhäuser des 19. Jahrhunderts betonten stolz die Wichtigkeit der öffentlichen Bildung, wirkten aber vielleicht auch ein bisschen einschüchternd. So versuchte man später, sich in der Architektur mehr den Kindern zuzuwenden und gute Lernbedingungen zu schaffen; die Bauten wurden kleinteiliger und so vielleicht menschlicher. Welches Gebäude nun ein besonders wertvolles Zeugnis einer Epoche darstellt, wird nach wissenschaftlichen Kriterien beurteilt. Der definitive Entscheid über die Aufnahme ins Inventar obliegt nicht der Denkmalpflege, sondern der Baudirektion.

Auch Baugenossenschaften haben mit ihrer Siedlungsarchitektur Bauzeugnisse geschaffen. Einige davon stehen unter Denkmalschutz. Gelten sie als wichtige Zeitzeugen?
Auf jeden Fall. Gleichzeitig sind sie heute nach wie vor Wohnbauten, die genutzt werden wollen und auch neue Bedürfnisse erfüllen müssen. Eine Entwicklung muss auch möglich sein, wenn gleichzeitig der historische Wert erhalten bleiben soll. Baugenossenschaften sind alleinige Eigentümer ganzer Siedlungen und denken durch ihr Selbstverständnis langfristig und in grösseren Zusammenhängen. Diese Kombination ist förderlich, gute Antworten auf die verschiedenen Zielsetzungen zu finden.

Die Denkmalpflege kann bei Umbauten und Sanierungen Auflagen formulieren, die massiven Einfluss auf die Nutzung eines Objektes haben können.
Da gebe ich Ihnen Recht, Zielkonflikte sind nicht zu vermeiden. Aber die Denkmalpflege zieht sich nicht zurück, nachdem sie über Auflagen ihre Zielsetzungen formuliert: sie berät und hilft mit, Lösungen zu finden, muss aber durchaus auch mal nein sagen. Die Zeiten, in denen vor allem der Fassadenerhalt im Vordergrund stand und man das Innere weitgehend aushöhlen konnte, sind vorbei. Heute versteht die Denkmalpflege ein Objekt mehr als Organismus, bei dem Inneres und Äusseres grundsätzlich eine Einheit bilden. Selbstverständlich sind immer Spielräume vorhanden, wenn eine Planung sorgfältig durchgeführt wird.

Werden Liegenschaftsbesitzer für zwingende Arbeiten, die mit dem Denkmalschutz in Verbindung stehen, finanziell unterstützt?
Unsere Aufgabe besteht darin, Qualität zu erkennen und diese zu erhalten. Das kostet etwas. Grundsätzlich sind alle Kosten, die für den Erhalt eines schutzwürdigen Gebäudes anfallen, subventionierbar und können im Kanton Zürich mit zwanzig bis dreissig Prozent unterstützt werden. In Zürich kommen diese Gelder aus dem Denkmalpflegefonds, dessen Mittel aus dem Lotteriefonds kommen.

«Auch die Denkmalpflege ist eine lebendige Sache.»

Im aktuellen Inventar sind Bauten bis etwa 1980 aufgelistet. In einem nächsten Schritt wird über die 1980er-Jahre gesprochen. Gibt es in dieser Epoche viele schützenswerte Bauten?
Um beurteilen zu können, ob ein Objekt für eine Epoche heraussticht, benötigt man zeitlichen Abstand, eine oder zwei Generationen. Gute oder schlechte Epochen existieren nicht. Eine solche Unterscheidung würde dem Grundgedanken widersprechen, Zeugnisse aus jeder Epoche gleich zu werten. Was den Stil betrifft, sind die 1980er-Jahre heute vielleicht allgemein noch etwas weniger akzeptiert. Trotzdem bin ich überzeugt, dass es auch für diese Zeit Bauten gibt, die ein besonderes Abbild der damaligen Zeit und gesellschaftlichen Situation sind.

Ein Blick in die Vergangenheit: 1933 entwarf der Zürcher Architekt Karl Moser im Auftrag der Stadt Zürich einen radikalen Vorschlag: Bis auf grössere Kirchen und das Rathaus sollte die Altstadt vollständig abgebrochen werden. Fände eine solche Idee heute bei irgendjemandem noch Zustimmung?
Ich kann mir das schwer vorstellen. Aber auch wenn das aus heutiger Sicht eine Schreckvorstellung ist: es ist sehr wichtig, dass solche Visionen entstehen und man darüber diskutiert. So setzt man sich mit dem auseinander, was dafür verloren gehen würde, und wird sich dessen viel mehr bewusst. Das Niederdorf wurde nach dem Zweiten Weltkrieg schliesslich Stück für Stück auf behutsamere Weise saniert. Bei Altstädten ist es heute das Ortsbild, das als Gesamtheit geschützt ist, und nicht jedes einzelne Gebäude. Obwohl es beim Ortsbild- und Denkmalschutz um das Bewahren geht, geschehen automatisch auch Veränderungen. Auch die Denkmalpflege ist eine lebendige Sache. 

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